Das Stillen mit all seinen Facetten

Das Stillen mit all seinen Facetten

Das Stillen mit all seinen Facetten

Einschlafstillen? Langzeitstillen? Stillen in der Öffentlichkeit? Stillen polarisiert. Mit all seinen Facetten. Doch wer hat das zu entscheiden? Wann, wo und wie lange gestillt wird?

 

Ein Gast-Blogbeitrag von Lina, einer unserer Expertinnen.

Lina (Sprachtherapeutin B.Sc., IBCLC, Stillspezialistin, EFNB) hat eine private Praxis für frühkindliche Ernährung, Stillberatung, Beikostberatung, Familienkostberatung und Logopädie. Sie bietet familienorientierte Beratung, Begleitung und Therapie an.

Wer entscheidet eigentlich, wann, wo oder wie lange gestillt wird? Niemand anderes als Mutter und Kind. Denn Stillen hat kein vorgeschriebenes Enddatum. Im Englischen wird dies deshalb auch als „Full-Term“ bezeichnet. Also das Stillen bis zu dem Alter, indem ein Kind einen großen Schritt an Reifung und Wachstum geschafft hat. Dennoch geraten Mütter in Erklärungsnot, erhalten unschöne Blicke oder fühlen sich unwohl, wenn sie das Kind lange stillen, in der Öffentlichkeit stillen oder es begleiten, damit es besser einschlafen kann. Wieso?

 

Einschlafstillen

„Einschlafstillen“- etwas ganz Normales, an dem sich trotzdem die Geister scheiden. Je älter ein gestilltes Baby wird, umso häufiger kommt das Thema auf „Du verwöhnst dein Baby doch!“ oder Aussagen wie „So kann es doch nie allein oder mit dem Papa einschlafen!“ häufen sich. Zunächst einmal möchten wir sagen, dass ein Baby besonders im ersten Lebensjahr nicht verwöhnt werden kann! Erst recht nicht durch Liebe, Zuwendung oder das Stillen von Bedürfnissen. ‍

 

Das Stillen zum Einschlafen… ‍

  • unterstützt das Gefühl der Sicherheit
  • unterstützt die Bindung zwischen Mutter und Kind
  • stillt den Hunger
  • hilft bei der (Selbst-)Regulation
  • unterstützt den Schlafrhythmus mit den Hormonen in der Muttermilch

Zudem unterstützt es das Gefühl der absoluten Sicherheit, dass jemand in einem der verletzlichsten Momente da ist und über einem wacht. Wenn wir schlafen, sind wir allem ausgeliefert und dass wir ein sicheres Dach über dem Kopf haben, ist unseren Babys noch nicht bewusst. Einem nicht an der Brustgestilltem Kind würde paradoxerweise niemand die Flasche verweigern. Hier ist es für viele „normal“, wenn diese noch weit ins Kleinkindalter mit ins Bett kommt. Des Weiteren ist es für ein Baby auch noch nach dem 6. Monat absolut normal, auch in der Nacht mehrmals zu stillen. Einmal, um sich wieder die Sicherheit einzuholen, dass da jemand ist und aufpasst und zum anderen auch noch zur Ernährung. ‍

 

Kann auch der Vater die Einschlafbegleitung übernehmen?

Die „Angst“, dass der Papa das Einschlafen nicht begleiten kann, ist meist unbegründet. Solange das Stillen natürlich als Nahrungsquellegebraucht wird, ist der Ersatz schwieriger. Aber auch Väter können Nähe und Geborgenheit schenken und die Sicherheit geben, beruhigt einschlafen zu können.  

 

Was brauchst DU zum Einschlafen? Nähe deines Partners/deiner Partnerin?

Niemand würde seinem Partner/seiner Partnerin die (körperliche) Nähe entziehen, wenn es ihm/ihr schlecht ginge oder sich alleine fühlt. Aber von Babys wird schon verlangt alleine, im Dunkeln entgegen all ihrer Urinstinkte einzuschlafen. ‍

 

Bedürfnisse stillen stärkt

Weinen ist dann immer die letzte Möglichkeit, auf die Bedürfnisse aufmerksam zu machen, ob beim Stillen oder Einschlafen. Dieses Rufen nach Hilfe bewusst zu verlängern, macht kein Kind stärker oder selbstständiger. Sondern genau das Gegenteil. Durch das Urvertrauen, dass immer jemand da ist, baut dein Baby ein Sicherheitsgefühl auf, dass es sein ganzes Leben begleiten kann. Wie fühlst du dich wenn du allein bist oder allein einschläfst? Was passiert wenn du Geräusche hörst? Wachst du auf? Schlaf ist sehr individuell - bei Klein und Groß. Kinder schlafen im Bett, an der Brust, im Kinderwagen, in der Trage, auf dem Arm oder im Auto. Jedes Kind ist anders. Erwachsene schlafen im Bett, auf dem Sofa, im Flugzeug, im Auto (als Beifahrer), im Zug, angekuschelt an jemanden oder allein. Hilft es dir zu wissen wie "gut" oder "schlecht" andere Kinder schlafen? Der Schlaf hat nichts mit dir als Mutter oder als Vater zu tun, er ist typ-, situations- und tagesformabhängig. Wichtig ist, dass du für dein Kind da bist. Begleite es, mit Liebe, Nähe, Geborgenheit und Sicherheit. Sei es mit Hilfe des Stillens, singend oder vielleicht mit einer Umarmung. ‍  

 

 

Langzeitstillen - was steckt dahinter?

Das Thema „Stillen nach dem ersten Lebensjahr“ beschäftigt viele Mütter. Meist scheint es daran zu liegen, dass Bekannte, Familie oder Freunde, aber auch wildfremde Menschen auf der Straße, die Gesellschaft oder auch Fachpersonen es noch immer als außergewöhnlich betrachten, wenn ein Kind über das erste Lebensjahr hinaus regelmäßig gestillt wird. Ein Faktor könnte auch die häufig verwendete Bezeichnung „Langzeitstillen“ sein. Der Begriff ist irreführend, denn er impliziert, dass die „normale“ Stillzeit kürzer wäre. Stillen hat kein definiertes Enddatum und es ist nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Es sollte eigentlich einfach nur „Stillen“ heißen. ‍

 

Wie ist das „Langzeitstillen“ aus Sicht eines Kindes zu sehen

Betrachten wir das Ganze mal aus der Sicht des Kindes. Für ein Menschenkind ist Stillen die normale Form der Nahrungsaufnahme. Doch darüber hinaus unterstützt Stillen die (Selbst-)Regulierung und gibt viel Sicherheit. Diese Bedürfnisse enden nicht einfach mit dem ersten Geburtstag. Gerade im zweiten Lebensjahr findet noch einmal eine große Entwicklung statt und es kommen möglicherweise noch äußere Einflüsse, wie die erste längere Trennung, wenn das Kind z. B. zu einer Tagesmutter oder in eine Kita geht, hinzu. Hier bietet Stillen einen Ruhepol, der bekannte Sicherheit gibt. Da Saugen eine Form der Regulierung ist, spielt es hier auch noch eine wichtige Rolle. Natürlicherweise nimmt das Saugbedürfnis im Normalfall nach dem ersten Lebensjahr sowieso ab, verschwindet jedoch nicht abrupt. Doch nicht nur das Stillen an sich, sondern auch die Muttermilch verlieren nicht ihre Bedeutung mit dem zunehmenden Alter des Kindes. Die Muttermilch deckt noch immer den Tagesbedarf bestimmter Nährstoffe ab und die Immunfaktoren können sogar noch einmal die gleiche Höhe wie im Kolostrum erreichen. Das ist sehr praktisch, wenn der Kontakt zu anderen Kindern kontinuierlich mehr wird. Zudem müssen auch nach dem ersten Geburtstag noch nicht alle Mahlzeiten durch Beikost der Familienkostersetzt worden sein. In diesem Fall nimmt Muttermilch noch einen wichtigen Teil in der Ernährung des Kindes ein. Dies kann auch nachts noch immer der Fall sein - zudem Muttermilch auch Durst stillt. ‍

 

Das „Langzeitstillen“ aus Sicht einer Mutter

Zu einer Stillbeziehung gehören immer zwei. Somit darf natürlich auch eine Mutter mitentscheiden, wie lange sie stillen möchte. Ich selber z. B. mache mir gar keine Gedanken wie lange ich meine Tochter noch stillen werde. Einmal, weil ich (meistens) die ruhigen Momente am Abend mit ihr genieße und weil es ihr hilft, entspannt in den Schlaf zu finden. Wir profitieren also beide davon. ‍ ‍

 

 

Stillen in der Öffentlichkeit

Seinen Nachwuchs zu stillen, ist das Natürlichste auf der Welt. Und eine bessere Nahrung als Muttermilch gibt es für die Kleinen nicht. So heißt es zumindest immer. Also sollte es doch auch kein Problem sein, ein Kind in der Öffentlichkeit zu stillen, wenn es Hunger hat, oder etwa doch? ‍

 

Unterwegs in der Stadt

Du, 25 Jahre alt, bist unterwegs. So langsam merkst du, dass dein Magen anfängt zu knurren und was trinken könntest du auch mal wieder. Du gehst zum nächsten Bäcker und bestellst dir ein Brötchen und eine Flasche Wasser. Ein Mädchen, 3 Monate alt, ist mit ihrer Mama beim Bäcker. So langsam merkt sie, dass ihr Magen anfängt zu knurren und irgendwie ist das auch so laut und es riecht alles komisch. Sie fühlt sich unwohl und dreht sich ihrer Mama zu und möchte Stillen. Bei einem dieser Fälle besteht die Chance, dass sich Leute empört wegdrehen, Kommentare von sich geben oder sogar gebeten wird, den Bäcker zu verlassen. Denn Stillen in der Öffentlichkeit ist noch immer nicht, oder besser gesagt nicht mehr, an jeder Stelle gern gesehen. Meist geht es nicht um das Baby/Kind, dass einfach seinen Hunger oder andere Bedürfnisse befriedigt, sondern um die vermeintlich „nackte Brust“ der Mutter.  

 

Der historische Wandel des Stillens

Historisch gesehen hat sich die Einstellung zur weiblichen Brust über die Jahrhunderte stark verändert. Im 15. Jahrhundert war es normal, dass Frauen oben ohne gehen, da die Brust für Ernährung und Mutterschaft stand. Mit dem Christentum kam der Gedanke, die Brust zu verdecken und mit dem zweiten Weltkrieg die Sexualisierung der Brust durch Pin-Up-Models, Sexikonen und den Playboy. Nahrungsquelle wurde zum Sexobjekt. Kaum einer stört sich heutzutage an weiblichen Brüsten auf Plakatwänden, aber ein Baby dezent zu ernähren sollte doch lieber hinter verschlossener Tür passieren. Dies führt unter anderem dazu, dass es immer weniger Stillvorbilder in der Öffentlichkeit gibt. Zudem zeigen Studien aus dem Ausland, dass die Angst vor dem Stillen in der Öffentlichkeit, fehlender Unterstützung und soziale Anerkennung in dem Bereich dazu führt, dass Frauen früher Abstillen, als sie eigentlich geplant hatten.  

 

Stillen in der Öffentlichkeit - ein Graus für junge Mütter?

Viele Frauen fürchten sich vor unangenehmen Blicken und versuchen deshalb von vornherein, auf das Stillen in der Öffentlichkeit zu verzichten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele das Stillen auch gar nicht wahrnehmen, einfach wegschauen oder es ignorieren. Denn meist sieht man von der vermeintlich nackten Brust kaum etwas. Es guckt ja auch niemand speziell auf jemanden, der ein Brötchen isst. Besonders von Frauen kommt auch manchmal ein Lächeln - etwas Verbindendes. Es gibt noch viele andere Gründe, warum jemand nicht in der Öffentlichkeit stillt/stillen möchte und das sei auch jedem/r selbst überlassen. Wichtig ist nur, dass jede Frau, die möchte, da Stillen kann, wo sie will, ohne sich unwohl oder angegriffen fühlen zu müssen. ‍  

 

Entwöhnung oder Abstillen

"Wann ist der beste Zeitpunkt zur Entwöhnung?", "Was ist der Unterschied zwischen Entwöhnung und Abstillen?" oder "Wann stillst du endlich ab damit die Nächte ruhiger werden?" Dir kommen diese Fragen bekannt vor? Du hast jetzt schon viel über Langzeitstillen, Einschlafstillen und Stillen in der Öffentlichkeit gelesen. Wie aber gestaltet sich der Weg von der Entwöhnung hin zum Abstillen? Der Prozess der Entwöhnung meint den Weg das Stillen zu reduzieren, es ist also noch nicht von Abstillen die Rede. Stillen ist nie "ganz oder gar nicht", es ist individuell und das gilt auch für den Weg zum Ende der Stillbeziehung, egal wie kurz oder lang dieser sein mag. Wichtig ist: Die Entscheidung liegt bei Mutter & Kind. Ein Baby stillt sich normalerweise nicht vor dem ersten Geburtstag ab. In den meisten Fällen beginnt das Entwöhnen mit der Einführung der Beikost. Die Beikost dient dem Kennenlernen von unterschiedlichen Nahrungsmitteln, das bedeutet das gerade anfangs noch keine ganzen Mahlzeiten zu sich genommen werden, sie begleiten das Stillen. Nach und nach verringert sich die Häufigkeit des Stillens. Aber selbst wenn tagsüber alle Mahlzeiten aus Brei, Fingerfood oder Familienkost bestehen, bedeutet dies immer noch kein Abstillen. Stillen zum Einschlafen, in der Nacht, am Morgen, zum Wiedersehen oder zur Beruhigung können immer noch stattfinden. Das Entwöhnen kann auch vom Kind ausgehen, vielleicht wird das nächtliche Stillen nicht mehr so häufig benötigt oder es wird mal eine Stillmahlzeit "vergessen". Schwankungen sind möglich. Geht das Entwöhnen von dir aus, kann die Einführung einer Flasche oder Formula notwendig sein (bei unter einem Jahr). Entwöhnung bedeutet aber nie Reduzierung von Nähe. Ein Ersatz kann notwendig sein. Aber der Ersatz bleibst du als Mama auf eine andere Weise. Eine andere Bezugsperson kann auch unterstützen, um den Übergang einfacher zu machen. Das Entwöhnen ist also ein guter Weg für euch beide, für das Baby und dich. Die Milchmenge kann sich langsam an den reduzierten Bedarf anpassen und die Hormone können sich umstellen. Das Abstillen ist das Ende einer Stillbeziehung. Im Idealfall gab es die zuvor beschriebene Phase der Entwöhnung. ‍ 

 

Abstillen nach Entwöhnung

  • Milchmenge hat sich langsam reduziert
  • manche Kinder (nach dem ersten Lebensjahr) "beschließen", dass sie es nicht mehr brauchen
  • z. T. verringert sich im Laufe der Entwöhnung die Milchmenge so stark, dass keine nennenswerte Milchübertragung mehr stattfindet.
  • manche Frauen setzen (mit ihrem Kind) einen Zeitpunkt fest, an dem die letzte Stillmahlzeit stattfindet
  • oft sind aufgrund der Entwöhnungszeit keine unterstützenden Maßnahmen notwendig

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kurzes, abruptes Abstillen

  • keine Stillmahlzeiten mehr oder das Weglassen von mehreren Stillmahlzeiten innerhalb eines kurzen Zeitraumes bis hin zum letzten Stillen
  • Achtung: Gefahr von Milchstau/Mastitis (Brustentzündung), Hormoneller Dysbalance, Depressiven Verstimmungen

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ungewolltes Abstillen (vor Etablierung der Milchbildung)

  • ungenügendes Entleeren in den ersten Tagen/Wochen
  • ungenügendes Entleeren in den ersten Wochen/Monaten
  • z.B. durch Probleme beim Baby und schlechter Entleerung, wenn nicht alternativ entleert wird

 

‍ Abstillen nach der Geburt

  • Medikamentöses Abstillen, so dass die Milchbildung gar nicht einsetzt (können auch später eingesetzte werden)
  • Achtung: Gefahr von körperlichen Nebenwirkungen
  • konservatives Abstillen mit Maßnahmen, um die Milchbildung zu unterdrücken

Begleitende/Unterstützende Maßnahmen

  • regelmäßiges Kühlen
  • bei starken Spannungsgefühlen minimal per Hand entleeren oder ausstreichen. Kein aktives Entleeren. Ein gewisser „Druck“ in den Zellen unterstützt das Abstillen.

Bei Fragen, Schwierigkeiten o. ä. wende dich bitte an deine Hebamme oder an qualifizierte Stillberater:innen. Für einen Überblick ist unser Still-Guide ideal. Hier kannst du Expert:innenwissen kurz und kompakt zusammengefasst finden.